Was sind die wahren Gründe für Fettleibigkeit?
Bewegungsmangel gilt im Allgemeinen als die Hauptursache für die Zunahme von Fettleibigkeit. In einem Alltag voller Autos, Aufzüge und Schreibtischarbeit scheint das logisch. Doch die aktuelle Forschung zeigt: Der Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und Übergewicht ist komplexer, als bisher angenommen und die entscheidende Rolle spielt offenbar die Ernährung.
Fettleibigkeit ist längst kein individuelles Problem mehr, sondern ein globales Gesundheitsrisiko. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist weltweit mehr als jede achte erwachsene Person adipös, Tendenz steigend. Gleichzeitig erhöht sich mit dem Übergewicht nicht nur das Risiko für Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und bestimmte Krebsarten, sondern auch die Wahrscheinlichkeit für einen verkürzten Lebensverlauf. Wer Fettleibigkeit versteht, versteht also auch ein zentrales Thema der Longevity-Forschung.
Bewegung allein erklärt die Adipositas-Epidemie nicht
Lange Zeit galt: Wer dicker wird, bewegt sich zu wenig. Doch eine aktuelle internationale Studie mit über 4.000 Teilnehmenden aus 34 verschiedenen Bevölkerungsgruppen zeigt, dass diese Erklärung zu kurz greift.
Gemessen wurde der tatsächliche Energieverbrauch, also wie viele Kalorien Menschen pro Tag verbrennen und das mit der präzisesten Methode, die es gibt: der sogenannten Doubly Labeled Water-Technik. Das Ergebnis überraschte selbst die Forschenden: Menschen in modernen Industriegesellschaften verbrauchen nicht weniger Energie als Menschen in traditionellen Lebensformen, etwa bei Jäger- und Sammlervölkern. Im Gegenteil – sie verbrennen im Schnitt sogar mehr Kalorien, einfach weil ihre Körper größer und schwerer sind.
Wenn man diesen Größenunterschied herausrechnet, zeigt sich nur ein sehr kleiner Unterschied: Der Energieverbrauch sinkt in wohlhabenden Ländern um rund sechs Prozent. Das reicht aber nicht aus, um die deutlich höheren Raten an Übergewicht zu erklären. Laut der Studie lässt sich nur etwa ein Zehntel der Zunahme an Körperfett durch geringere Energieverbrennung erklären. Der weitaus größere Teil hängt mit dem zusammen, was und wie viel wir essen.
Ultraverarbeitete Lebensmittel als unsichtbarer Treiber
Die Studie fand eine deutliche Korrelation zwischen dem Anteil ultraverarbeiteter Lebensmittel (Ultra-Processed Foods, UPFs) in der Ernährung und dem Körperfettanteil der Bevölkerung. Diese Nahrungsmittel – stark industriell bearbeitet, meist fett- und zuckerreich, arm an Ballaststoffen und Proteinen – machen in westlichen Ländern mittlerweile bis zu 60 Prozent der täglichen Kalorienzufuhr aus.
Sie verändern die Art, wie wir essen: schneller, in größeren Portionen, mit weniger Sättigung.
Eine kontrollierte Studie des US National Institute of Health zeigte, dass Teilnehmende auf einer Diät mit ultraverarbeiteten Lebensmitteln im Schnitt 500 Kalorien pro Tag mehr konsumierten als bei einer Ernährung mit natürlichen Lebensmitteln. Und das, obwohl beide Mahlzeiten gleich viele Nährstoffe, Zucker und Ballaststoffe enthielten. Bereits nach zwei Wochen nahmen sie rund ein Kilogramm zu.
Der Grund liegt in der Beschaffenheit dieser Produkte: Sie sind leicht zu essen, sättigen jedoch kaum und belohnen das Gehirn übermäßig stark. Eine Kombination, die evolutionär nie vorgesehen war.
Auch der Einfluss auf das Mikrobiom wird zunehmend untersucht. Emulgatoren und Zusatzstoffe können die Darmflora verändern und Entzündungsprozesse fördern und damit Appetitregulation und Stoffwechsel langfristig stören.
Ernährung, Stoffwechsel und Langlebigkeit
Fettleibigkeit ist mehr als ein ästhetisches oder soziales Problem. Sie ist ein biologischer Zustand chronischer Entzündung und hormoneller Dysregulation – beides entscheidende Faktoren für die Alterung. Adipozyten (Fettzellen) produzieren entzündungsfördernde Botenstoffe, die das Immunsystem dauerhaft aktivieren. Dieses „Inflammaging“ gilt als zentrale Ursache für viele altersbedingte Krankheiten.
Studien zeigen, dass schon ein moderater Gewichtsverlust das Level dieser Entzündungsmarker senken kann und sich dadurch Insulinsensitivität, Blutdruck und kognitive Funktionen verbessern. Alles Faktoren, die direkt mit einem längeren, gesünderen Leben verbunden sind.
Für die Longevity-Forschung bedeutet das: Nicht das Gewicht an sich, sondern die metabolische Gesundheit ist entscheidend. Eine ausgewogene, nährstoffreiche und möglichst unverarbeitete Ernährung stabilisiert Blutzucker, reduziert stille Entzündungen und unterstützt Mitochondrienfunktion und Zellreparatur. Bewegung bleibt dabei unverzichtbar, nicht, um „Kalorien zu verbrennen“, sondern weil sie Entzündungsprozesse hemmt, Muskeln erhält und epigenetische Mechanismen günstig beeinflusst.
Fazit: Weniger Schuld, mehr System
Die Frage „Wer ist schuld an Fettleibigkeit?“ lässt sich nicht auf Disziplin oder Bewegungsmangel reduzieren.
Fettleibigkeit ist das Resultat einer ungesunden Umgebung, die billige, verführerische und nährstoffarme Nahrung zur Norm gemacht hat. Gleichzeitig bewegen wir uns in einem Alltag, der Essen jederzeit verfügbar, aber Sättigung schwer messbar macht.
Für ein langes, gesundes Leben braucht es daher keine Schuldzuweisungen, sondern strukturelle Lösungen: bessere Lebensmittelqualität, Aufklärung über Verarbeitung und gezielte Strategien, die Ernährung wieder an biologische Bedürfnisse anpassen.
Quellen:
- WHO – Obesity and overweight
- Energy expenditure and obesity across the economic spectrum – July 14, 2025122 (29) e2420902122https://doi.org/10.1073/pnas.2420902122
- Ultra-Processed Diets Cause Excess Calorie Intake and Weight Gain: An Inpatient Randomized Controlled Trial of Ad Libitum Food Intake